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Junges DTF
Menschen im Ausstellungsraum schauen sich ausgestellte Wände mit Text und Bilder an, Quelle: DTF

Musik, Kunst 18.12.2011 /// 15:00 - 22:00 Uhr Linden-Museum Stuttgart Finissage der Ausstellung Merhaba Stuttgart

Vor 50 Jahren, am 30. Oktober 1961, schlossen die Bundesrepublik Deutschland und die Türkei ein Anwerbeabkommen. Es war nach den Abkommen mit Italien (1955) sowie Griechenland und Spanien (1960) das vierte Anwerbeabkommen, mit dem Arbeitskräfte nach Deutschland geholt wurden.

Dies ist Anlass für die Ausstellung "Merhaba Stuttgart", zu deutsch "Hallo Stuttgart". Sie erzählt und würdigt 50 Jahre deutsch-türkisches Miteinander und Stadtgeschichte(n) aus der Sicht von türkischstämmigen Stuttgarter*innen. Die Grundlage der Ausstellung sind Interviews, die Schüler*innen des Wirtschaftsgymnasiums West und der Schillerschule Stuttgart geführt haben. Die Präsentation basiert auf den Inhalten der Interviews und ist auch ein Dialog zwischen den Generationen. Mehrere Monate lang führten die Schüler*innen über 100 Interviews und sammelten Objekte.

Vielfalt der türkischen Zuwanderungsgeschichte in Stuttgart

Die Ausstellung beleuchtet verschiedene Themen, bei denen sie stets auch die Interviewpartner*innen selbst zu Wort kommen lässt. Sie erzählt Lebensgeschichten und individuelle Erfahrungen. Dabei erheben die präsentierten Inhalte und die Vorstellung ausgewählter Personen nicht den Anspruch, repräsentativ zu sein. Dennoch wird die Vielfalt der türkischen Zuwanderungsgeschichte in Stuttgart sichtbar.

Weil nicht alle Geschichten erzählt sind, haben die Besucher*innen die Möglichkeit, ihre eigenen Erfahrungen an einer Medienstation zu ergänzen. "Merhaba Stuttgart" ist ein Projekt, das durch Beteiligung erweitert und vertieft werden kann.

Schon vor dem Anwerbeabkommen lebten in Stuttgart Menschen aus der Türkei. An der Technischen Hochschule Stuttgart waren türkische Studenten 1961 die zweitstärkste ausländische Gruppe. Auch bemühten sich manche Stuttgarter Unternehmen schon vor Oktober 1961 um Arbeitskräfte aus der Türkei. Bereits im Juli 1961 wurde deshalb in Istanbul die "Deutsche Verbindungsstelle" der Bundesanstalt für Arbeit eingerichtet.

Mit der "Verbindungsstelle" und dem Anwerbeabkommen von Oktober 1961 wurden Arbeitskräfte verstärkt angeworben, aber auch ein strenges Auswahlverfahren etabliert. Die meist männlichen Bewerber mussten bei bester Gesundheit sein und sich für die Vermittlung als Fachkraft einer Eignungsprüfung unterziehen. Viele Bewerber scheiterten bereits in Istanbul. Die erfolgreich Angeworbenen traten die anstrengende Bahnreise vom Istanbuler Bahnhof Sirkeci nach München an. Nach der Begrüßung durch Dolmetscher und einer ersten Mahlzeit wurden die Neuankömmlinge auf die Weiterreise an ihre Arbeitsorte geschickt. Es begann das "Abenteür Deutschland", mit dem sich viele Hoffnungen, aber oft wenig konkrete Vorstellungen über das Land und auch manche Ängste verbanden. Die Ankunft in der Fremde war nicht einfach. Aber durch die Erzählungen zieht sich die Erinnerung, in Deutschland anfangs sehr willkommen gewesen zu sein.

Seither haben sich viele Menschen aus den unterschiedlichsten Gründen auf den Weg nach Stuttgart gemacht – mit Träumen und Ängsten im Gepäck.

"Das war für mich alles nur Lagaluga" – Inci N.

Ankommen, nichts verstehen, sich nicht ausdrücken können – das war oft ein Schock. Dies galt gerade für Zuwanderer der ersten Generation, denen keine Angehörigen das Ankommen erleichterten. Oftmals versuchten die Menschen, sich mit Gestik verständlich zu machen. Familien erzählen sich viele Geschichten von den Einkaufs-Erlebnissen der ersten Generation. Wichtig war es, jemanden zu kennen, der besser Deutsch sprach als man selbst und helfen konnte.

Unternehmen beschäftigten Dolmetscher, die sich um die Neuankömmlinge kümmerten. Sprachkenntnisse erwarb man "nebenbei" am Arbeitsplatz, von Vorarbeitern und Kollegen, nur teilweise unterstützt von Kursen. Kinder lernten Deutsch im Kindergarten und in der Schule. Viele Fraün berichten, gemeinsam mit ihren Kindern gelernt zu haben. Manchmal waren auch Kontakte zu Nachbarn entscheidend.

Sprachkurse für Erwachsene gewannen vor allem als Instrument der "Arbeitsförderung" an Bedeutung. Seit 1974 wurden Sprachkurse über den "Sprachverband Deutsch für ausländische Arbeitnehmer" aus Bundesmitteln gefördert. Mit dem Zuwanderungsgesetz von 2005 wurden "Integrationskurse" für alle Neuzuwanderer verpflichtend. Die Förderung erfolgt über das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge.

Zweisprachigkeit ist heute Normalität. Das "Switching" zwischen Türkisch und Deutsch ist weit verbreitet und nicht mit deutsch-türkischem Jugendslang zu verwechseln.

Angekommen in Deutschland, lebten die ersten Arbeitsmigranten überwiegend in Arbeiterwohnheimen oder in einfachsten, vom Arbeitgeber bereitgestellten Privatunterkünften. Notdürftig ausgestattete Mehrbettzimmer, Gemeinschaftsküchen und -bäder waren die Regel, manchmal fehlte das Bad ganz.

Wer seine Wohnsituation verbessern wollte - etwa, um die Familie nachzuholen -, traf in der Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre auf große Schwierigkeiten. Gesucht waren preiswerte Wohnungen, damit ein großer Teil des Gehalts gespart werden konnte. Die Skepsis und Ablehnung deutscher Vermieter machte die Wohnungssuche schwierig.

So mussten viele Familien zunächst mit sehr bescheidenen Unterkünften vorlieb nehmen. Gespart wurde in jeder Hinsicht: an der Wohnung, der Einrichtung, aber auch an Kleidung. Nur langsam richteten sich Familien ein, erwarben Mobiliar und erhöhten ihren Lebensstandard. Damit verbunden war der Wunsch, länger in Deutschland zu bleiben. Die Familien wurden langsam heimisch. Der Wunsch nach einem guten Leben wurde nicht mehr auf ein "Später" verschoben. Wichtig war vielen, ein Haus oder eine Wohnung zu kaufen. Und wer es sich leisten konnte, erwarb Wohneigentum sowohl in Deutschland als auch in der Türkei.

Die ersten Zuwanderer aus der Türkei hatten klare Ziele: eine Zeit lang hart arbeiten, um möglichst viel zu sparen. Viele wollten das Ersparte für Investitionen in der Heimat nutzen – etwa für den Kauf eines Traktors.

Im Stuttgart der 1960er Jahre eine Anstellung zu finden, war einfach. Arbeit gab es überall: bei den großen Arbeitgebern, in Familienunternehmen und kleinen Betrieben, in der Industrie oder auf dem Bau. Doch die Arbeitsbedingungen waren hart, die Zuwanderer mussten oft körperlich sehr schwere Arbeit im Schichtdienst leisten.

Das Berufsleben hatte oft eine Vielzahl von Stationen: Vor allem in den Anfangsjahren wechselten viele Menschen mehrfach freiwillig den Arbeitsplatz, um die berufliche Situation zu verbessern. Auch Nebentätigkeiten waren verbreitet. Viele Arbeitnehmer fanden früher oder später aber eine Festanstellung bei einem der großen Unternehmen. Nicht selten motivierte man auch die eigenen Kinder zu einem Einstieg bei dem gleichen Arbeitgeber.

Manche Zuwanderer machten sich selbstständig. Vor allem Fraün berichten von unterschiedlichsten Tätigkeiten im Laufe ihres Lebens, vom motivierten Neuanfang nach Erziehungszeiten, mit Weiterbildung oder Selbstständigkeit. Andere klagen über verpasste Chancen.

Obwohl immer mehr Stuttgarterinnen und Stuttgarter türkischer Herkunft in verschiedensten Arbeitsfeldern erfolgreich sind, werden Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Situation heute skeptisch beurteilt. Einige Interviewpartner erhoffen sich bessere Perspektiven in der Türkei und denken an Abwanderung.

Unter den ersten Arbeitsmigranten aus der Türkei waren viele Facharbeiter. Sie kämpften zwar mit Sprachbarrieren und Aufstiegsproblemen, wurden aber schnell in den Arbeitsmarkt integriert.

Für die nachfolgenden Generationen war und ist der Weg durch das Bildungssystem oft schwierig. Vor allem jugendlichen Zuwanderern war es häufig nicht möglich, ihren Fähigkeiten oder Interessen entsprechende qualifizierte Bildungsabschlüsse zu erwerben. Berufsvorbereitende Klassen führten oft in die Erwerbstätigkeit, konnten den Entwicklungsmöglichkeiten vieler Jugendlicher jedoch nicht gerecht werden. Doch auch in Deutschland geborene Kinder haben im deutschen Bildungssystem Probleme. Nicht zuletzt die PISA-Ergebnisse verweisen auf die Abhängigkeit des Schulerfolges vom Bildungsstand der Eltern und konstatieren ein im internationalen Vergleich schlechtes Abschneiden von Kindern mit Migrationshintergrund.

Ein motivierendes Umfeld und persönlicher Ehrgeiz sind gute Voraussetzungen, Bildungs- und Berufserfolg über Schulwechsel, berufliche Bildung oder den zweiten Bildungsweg zu erreichen. In den für diese Ausstellung geführten Interviews war Bildung oft ein Thema. Die in den Zitaten benannten Probleme spiegeln die Komplexität des Themas, auch wenn sie nicht alle Aspekte und Probleme des Bildungssystems ansprechen. Die Interviewten berichten von Erfolgen, aber auch von verpassten Chancen, von der Unkenntnis des Schulsystems als einer ersten Hürde und dem Nutzen des zweiten Bildungswegs.

Familie meint nicht nur Eltern, Geschwister und Großeltern, sondern auch Onkel, Tanten, Cousins und Cousinen und entfernte Verwandte. Viele der Interviewpartner betonen die große Bedeutung der Familie und beschreiben den Schmerz, wenn die eigene Familie nicht in der Nähe ist. Enge familiäre Beziehungen können sich im Konfliktfall aber durchaus auch als schwierig gestalten.

Infolge der Arbeitsmigration erlebten viele türkische Familien jahrelange Trennungen. Ehepartner und vor allem die Kinder wurden später nachgeholt. Nachziehende Ehepartner ohne eigene Angehörige vermissten ihre eigene Familie. Nachgeholte Kinder wurden von ihren Eltern oft wieder eine Zeit lang in die Türkei zurückgebracht. Angesichts der schwierigen Lebensverhältnisse in Deutschland schienen sie bei der Großfamilie besser aufgehoben zu sein. Für die Kinder waren diese Trennungen schwer zu verarbeiten. In Deutschland wuchsen die Kinder in eine besondere Verantwortung hinein. Oft waren sie Familiendolmetscher im Alltag und bei Behörden. Manche mussten sogar ihre Eltern bei den Elternabenden vertreten.

Neue, selbstbestimmte Familientrennungen auf Zeit charakterisieren die Gegenwart. Viele ältere Menschen pendeln zwischen der Türkei und der Familie in Deutschland. Voraussetzung dafür ist Wohneigentum in der Türkei. Doch nicht allen Menschen steht diese Option offen.

Schichtarbeit und die körperliche Anstrengung machten in der anfangs fremden Umgebung echte "Feierabende" fast unmöglich. Doch an den Wochenenden oder freien Tagen versuchte man, den Arbeitsalltag hinter sich zu lassen. Arbeitskollegen und Mitbewohner trafen sich zum Stadtbummel, unternahmen Ausflüge und spielten Fußball.

Mit dem Nachzug der Familien wuchs das Bedürfnis, an den Abenden oder zumindest den Wochenenden Zeit mit der Familie zu verbringen. Gemeinsame Mahlzeiten und Einladungen von Verwandten und Bekannten waren besonders wichtig.

Diese typischen Wochenendbesuche und die Konzentration auf ein enges soziales Umfeld haben im Laufe der Zeit an Bedeutung verloren. Menschen sind heute in verschiedenste Netzwerke und Aktivitäten eingebunden. Von großer Bedeutung sind Hochzeiten, die als gesellschaftliche Ereignisse mit vielen Gästen gefeiert werden.

Die großen islamischen Feste - Zuckerfest und Opferfest - werden auch von säkular eingestellten Menschen als wichtige Tradition begangen. Verwandtenbesuche und festliche Mahlzeiten gehören dazu, die Moscheen werden an diesen Tagen verstärkt besucht. Ein wichtiger Anlass für Zusammenkünfte ist z.B. das tägliche Fastenbrechen im Ramadan. Doch auch die in Deutschland bedeutenden Feste christlicher Tradition spielen eine Rolle. Selbst wenn Weihnachten nicht gefeiert wird, haben viele Familien Weihnachtsbäume. Die freien Tage um den Jahreswechsel erlauben besinnliche Stunden, Kinder werden beschenkt.

In den Anfangsjahren der Migration fehlten familiäre und soziale Netzwerke. Die Betreuungs- und Beratungsangebote, etwa der Arbeiterwohlfahrt (=Türk Danış, d.h. türkisches Auskunftsbüro) oder des DGB, waren deshalb wichtig. Im Laufe der Zeit entstanden Arbeitskreise und Treffs verschiedener sozialer Träger, bis hin zu Seniorengruppen.

Kollegen aus der Türkei waren für die ersten Migranten die wichtigsten Bezugspersonen. Besonders ausgeprägt war das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen Menschen aus der gleichen Herkunftsregion. Mit wachsender Zuwanderung und dem Familiennachzug wurden diese Bindungen gestärkt.

Aus informellen Netzwerken entwickelte sich ein ausgeprägtes Vereinswesen, das unterschiedlichste politische, religiöse und kulturelle Orientierungen repräsentiert. Schätzungen gehen von über 200 türkischen Vereinen in Stuttgart aus. Menschen mit türkischem Migrationshintergrund sind auch in anderen Stuttgarter Vereinen aktiv, z.B. in Sportvereinen.

Aus Kontakten über Beruf und Bildung sind freundschaftliche Beziehungen entstanden, türkische und nicht-türkische Netzwerke, Partnerschaften und Familien. Oft wird von deutschen "Familienfreunden" und "Omas" erzählt.

Aber in manchen Interviews war auch Skepsis gegenüber den als unnahbar wahrgenommenen "Deutschen" spürbar.

Lebenswirklichkeiten, die sich gleichermaßen auf ein "Hier und Dort" beziehen, sind heute Normalität. Der Kontakt zur Heimat war den Menschen der ersten Migrantengeneration ein essentielles Bedürfnis. Doch Briefe waren oft lange unterwegs bis sie die türkische Provinz erreichten. Umso wichtiger waren regelmäßige Heimatbesuche. Mit voll bepackten Autos ging es auf die lange Reise. In die Türkei brachte man Geschenke wie moderne Haushaltsgeräte. Auf dem Rückweg transportierte man das, was in Deutschland fehlte, zum Beispiel türkische Lebensmittel.

Die wenigen türkischsprachigen Angebote der öffentlich-rechtlichen Sender waren lange Zeit eine wichtige Verbindung in die Türkei.

50 Jahre später ist alles anders: Billigflieger ermöglichen häufige Reisen. Preiswerte Telefonverbindungen, E-Mail und Videochat prägen die Kommunikation. Türkische Zeitungen und Fernsehprogramme sind ebenso alltäglich wie türkische Supermärkte. "Ethno-Marketing" schafft gezielt Angebote für Menschen mit Migrationshintergrund und wird inzwischen auch von großen Unternehmen betrieben.

Fotoimpressionen zur Finissage der Ausstellung Merhaba Stuttgart