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Junges DTF
Eine Person steht am Pult und spricht zum stehenden Publikum, an den Wänden hängen Bilder, Quelle: DTF Stuttgart

Kunst 10.11.2003 /// 19:00 Uhr - 11.11.2003 /// 22:00 Uhr Linden-Museum Stuttgart Karagöz - Türkisches Schattentheater

Der lange Weg der Türken - 1500 Jahre türkische Kultur

Karagöz, das türkische Schattentheater, war im Osmanischen Reich des 16. und 17. Jhdts die beliebteste Form der Unterhaltung. Es erfreute alle Gesellschaftsschichten, die "High Society" lachte am Sultanshof ebenso darüber wie das "einfache Volk" in den Kaffeehäusern der Städte. Auch bei privaten Familienfesten wurden Vorstellungen des Schattentheaters gebucht, und besonders oft veranstalteten die Osmanen Karagöz-Aufführungen im Fastenmonat Ramadan, wenn sich nach Sonnenuntergang zum gemeinsamen Essen getroffen wurde.

Die für das Schattentheater benötigte Bühne bzw. Kulisse bestand aus einer hölzernen Rahmenkonstruktion. Der dahinter verborgene Spieler agierte - für das Publikum unsichtbar - mit den Schattentheaterfiguren vor einem Bühnenfenster, das mit einem hellen transparenten Stoff bespannt war. Die Figuren waren flache Scherenschnitte aus dünnem, durchsichtig geschabtem und bunt gefärbtem Leder, oft Kamelhaut. Ihre Größe schwankte zwischen 10 und 40 cm. Sie waren durchbrochen gearbeitet, so dass ihnen Licht- und Schattenwechsel Details, z.B. ausdrucksvolle Augen, verliehen. Hinter der von Kerzen oder Lampen angestrahlten Leinwand bewegten sich die Figuren als farbige Schatten. Da die Einzelteile der Puppen, etwa die Gliedmaßen, an den Gelenken, aber auch an Kopf und Taille durch Schnüre verbunden waren, konnten die Gestalten abrupt-komische Bewegungen und lustige Verrenkungen vollziehen. Der Puppenspieler steuerte sie mit Hilfe von Stöcken, an denen sie befestigt waren. Mit großer Fingerfertigkeit dirigierte er bis zu drei Figuren und imitierte dazu die unterschiedlichen Stimmen.

Hintergründige Komödie mit manchmal auch satirisch-possenhaften Zügen

Das Schattentheater war keineswegs ein oberflächliches Amüsement, sondern eine hintergründige Komödie mit manchmal auch satirisch-possenhaften Zügen. Einer der beiden Hauptakteure war Karagöz (Schwarzauge), ein ungebildeter, oft als "Zigeuner" dargestellter Bauer. Trotz seiner Faulheit und Grobschlächtigkeit machten ihn seine lustige Schläue und Vorwitzigkeit zum sympathischen Schalk und erklärten Liebling des Publikums. Er war die Identifikationsfigur des Volkes schlechthin. Der Widerpart von Karagöz und der zweite Protagonist im Spiel, war sein hochnäsiger Nachbar Hacivat. Feinsinnig und gebildet, verkörperte der höfliche Biedermann einerseits "political correctness", andererseits trachtete er - typisch Doppelmoral - selbstsüchtig nach seinem persönlichen Vorteil. Daneben gab es weitere prototypische Charaktere, die die Gestalten aus dem osmanischen Alltagsleben karikierten. Insgesamt gab es 50-60 Figurentypen. Diese stammten aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und Volksgruppen. Es gab den armen Säufer Matiz ebenso wie den reichen Frauenheld Celebi. Bevorzugt persifliert wurden auch Frauen, die als geschwätzige und untreue Ehefrauen oder Töchter sowie raffinierte Kurtisanen in Erscheinung traten. Ebenso erging es ausländischen Minderheiten, den Persern, Griechen, Arabern oder Juden. Der Auftritt all dieser Figuren während des Spiels wurde mit einer Art musikalischem Leitmotiv, einer bestimmten Melodie, angekündigt.

Doppeldeutige Wortspiele und den Missverständnisse

Jedes Schattenspiel bestand aus folgenden Teilen: Vorwort, Dialog bzw. Haupthandlung und Schlusswort. Manche der insgesamt 30-40 Karagözstücke widmeten sich alltäglichen Sorgen und Problemen, andere sagen- und märchenhaften Inhalten. Meist heckte der Protagonist Karagöz Pläne aus, um irgendwie an Geld zu kommen oder übernahm eine Aufgabe, für die er völlig ungeeignet war. Die Komik des Spiels resultierte aus den doppeldeutigen Wortspielen und den Missverständnissen zwischen den Akteuren. Weil sich Hacivat vornehm und gewählt ausdrückte, wobei seine Sprache mit unverständlichen Fremdwörtern durchsetzt war, pflegte Karagöz einen unfeinen, derben Jargon. So gerieten beide fortwährend aneinander und die Streitgespräche endeten regelmäßig in Raufereien. Das satirische Spiel wollte jedoch nicht nur unterhalten, sondern Kritik an den bestehenden Verhältnissen üben, soziale und politische Missstände, z.B. Brautkauf, Frontdienst oder Geldverleih, anprangern. Dabei repräsentierte Karagöz den mit seinen Verhältnissen unzufriedenen kleinen Mann aus dem Volk.

Der türkische Volksmund überlieferte Karagöz und Hacivat hätten wirklich gelebt. In Bursa sollen sie als Handwerker beim Bau der dortigen Moschee gearbeitet und mit ihren ewigen Scherzen und Streitereien so viel Ungemach angerichtet haben, dass Sultan Orhan (reg. 1326-1360) sie hinrichten ließ. Dennoch soll er die Späße der beiden Unholde vermisst und seine Entscheidung bereut haben. Daher erfand angeblich einer seiner Gefolgsmänner zum Trost des Sultans die Theaterfiguren und das Schattenspiel.

Wurzeln des Schattenspiels wohl in Ost- oder Südostasien

Einer anderen Anekdote zufolge übernahmen die Osmanen das Schattentheater aus Ägypten. Sultan Selim I. (reg. 1512-1520), so heißt es, habe nach seinem Sieg über die Mamelucken (1516) die Hinrichtung des ägyptischen Sultans im Schattenspiel gesehen und sei so angetan gewesen, dass er es mit an seinen Hof nahm. Tatsächlich lagen die Wurzeln des Schattenspiels wohl in Ost- oder Südostasien, wahrscheinlich auf Java, woher es dann in die arabische Welt gelangte. Die Inhalte und die Manier des Karagöz-Theaters jedoch entstammten den Traditionen des Osmanischen Reiches. Dort schätzte man es im 16. und 17. Jhdt. als populäre Kurzweil, und es konnte sich zu einer Art Volkskunst entwickeln. Nicht selten jedoch lehnte die islamische Geistlichkeit das Illusionstheater als unmoralisch und obszön ab. Vereinzelt warf sie dem Schattenspiel auch einen Verstoß gegen das sog. Bilderverbot vor. Um sich gegen den Vorwurf der gotteslästerlichen Darstellung menschlicher Lebewesen zu verwahren, perforierten die Puppenspieler ihre Figuren mit Löchern, meist in der Herzgegend, so dass die Gestalt als nicht lebensfähig galt. Die Tradition des Schattenspiels wird auch heute noch gelegentlich in der Türkei gepflegt. So verfasste beispielsweise der bekannte zeitgenössische Dichter Aziz Nesin (1916-1995) einige Karagöz-Stücke.

Zwei Abendvorstellungen und eine Aufführung

Das Linden-Museum und das Deutsch-Türkische Forum Stuttgart e.V. entführen in zwei Abendvorstellungen und einer Aufführung für Schulklassen am Vormittag in die Welt des Karagöz. Der Schattenspielmeister Hasan Hüseyin Karabag aus Istanbul war Mitglied einer experimentellen Theatergruppe, rief bald nach der Aufnahme des Publizistikstudiums eine eigene Theatergruppe an der Universität ins Leben, besuchte eine Schattentheaterschule und gründete dann sein eigenes Karagöz-Haus, in dem er als professioneller Karagözcü arbeitete. Zurzeit lehrt er klassisches türkisches Theater an einer Istanbuler Kultureinrichtung, gibt Schauspielunterricht an der Istanbuler Universität, arbeitet als Regisseur und Schauspieler am Istanbuler Stadttheater und schreibt Kindertheater- und Karagöz-Stücke, mit denen er bei Festivals auftritt.